Für Ärzte: Moderne Venentherapie 2020 – Möglichkeiten und Grenzen

Dr. med. Johann C. Ragg, Leitender Arzt der angioclinic® Venenzentren

Etwa ein Viertel der Bevölkerung westlicher Nationen entwickelt im Laufe des Lebens eine venöse Insuffizienz. Diese wird immer noch "chronisch" genannt, obwohl das nur für einen geringen Teil der Fälle zutrifft. Die Mehrzahl der Fälle ist über die ersten Jahrzehnte des Verlaufs nicht chronisch, ebenso wie Karies oder Übergewicht. Bereits dies lässt erkennen, mit wieviel Fehleinschätzung diesem häufigen Krankheitsbild begegnet wird.

Während in den letzten 100 Jahren schwere Fälle der epifascialen Insuffizienz und der Varikose primär operativ versorgt wurden und Patienten mit leichten Befunden relativ stereotyp nur Kompressionsstrümpfen erhielten, verfügen wir heute über ein sehr grosses Sortiment an Möglichkeiten: In der Diagnostik stehen flächendeckend hochauflösende Ultraschallgeräte zur Verfügung, die die Diagnose einer beginnenden Venenschwäche bereits Jahrzehnte vor dem Auftreten von Symptomen ermöglichen. Die Diagnostik vermag heute wiederherstellbare Klappenfunktionen zu erkennen. Behandlungsbedürftige insuffiziente Venensegmente können von lediglich sekundär überlasteten und somit nicht therapiepflichtigen Abschnitten unterschieden werden. Die Anwendung dieses Wissens ist jedoch selbst unter Experten spärlich und die Frage, ab welchem Befund Eingriffe indiziert sind, bedarf dringender Diskussion.

Zur eigentlichen Behandlung sind zu den chirurgischen Möglichkeiten seit der Jahrtausendwende endovenöse Okklusionstechniken hinzugekommen, bei denen mittels Laserenergie, Radiofrequenz, Wasserdampf, chemischen Verödungsmitteln oder medizinischen Klebern ein Venenverschluss kranker Segmente herbeigeführt wird. Bei genauem Hinsehen gibt es aber allein beim Laser mindestens fünf grundlegende Varianten mit unterschiedlichen Indikationen, und noch vielfältiger sind die chemischen Verödungstechniken, die immer häufiger in Schaumtechnik ausgeführt werden. Die Krönung ist die "one-step"-Prozedur, die in Kombination mehrerer Techniken bei Stammvenen-, Seitenast- und Perforansläsionen in einer Sitzung zum stabilen Erfolg führt. Dies gelingt endovenös detailreicher, als es der Chirurgie je möglich war, weil auch kleinere Refluxquellen bei Relevanz mit eingeschlossen werden können, während zugleich reaktivierbare Venen dem Körper erhalten werden können – bei minimaler Rezidivneigung. Mit der perivenösen Valvuloplastie, einer fokalen Venenformung mittels ultraschallgezielter Injektion von Hyaluronsäure oder Dextranomer, können frühe Stadien von Klappenfehlern über viele Jahre korrigiert werden – und das binnen weniger Minuten. Diese von mir im Schweizer Labor entwickelte und in Deutschland erprobte Technik (u.a. vorgetragen bei der Jahrestagung des European Venous Forum Zürich 2019) ändert das Verständnis der Venenschwäche fundamental, weil sie wie nie zuvor veno-venöse Interaktionen verstehen hilft und den Schlüssel zu echten Heilungen darstellt. Wir sagen daher gerne: "Venen heilen statt operieren".

Welche Patienten sollen nun heute der Chirurgie zugeführt werden, welche endovenösen Techniken und welche profitieren ernsthaft von anderen "Neuheiten"? Neben den versicherungsrechtlichen Argumenten steht die fachliche Entscheidung: Die Chirurgie der venösen Insuffizienz ist überwiegend einfach, sie ist in allen westlichen Ländern gut kultiviert und wird von vielen Ärzten beherrscht. Die endovenösen Methoden hingegen sind, wenn ihr Potenzial an Zuverlässigkeit und Sicherheit ausgeschöpft werden soll, relativ komplex, zumal alle Eingriffe unter konsequenter Ultraschallsicht durchzuführen sind. Dies wird aufgrund der kurzen Lernkurve selten wirklich beherrscht, so dass meist nur "einfache" Fälle für endovenöse Methoden ausgewählt werden, obwohl gerade diese auch risikoarm chirurgisch zu versorgen sind und eher die Problemfälle wegen der Risikoreduktion für endovenöse Verfahren auszuwählen wären. Leider lässt sich von grosser chirurgischer Expertise nicht auf ein entsprechendes Können mit endovenösen Methoden schliessen. Nach einer Umfrage beherrschen nicht einmal 20% der gefässchirurgischen Chefärzte den notwendigen interventionellen Ultraschall. Nach Literaturangaben sind die Erfolge der chirurgischen und endovenösen Methoden, sofern von geübter Hand ausgeführt, kurz- und langfristig (dokumentiert über 12 Jahre) etwa gleich, die Risiken sind jedoch für die endovenösen Verfahren wesentlich geringer. Man bedenke nur, dass diese niemals eine Narkose erfordern und keine Aktivitätseinbussen verursachen. Engagiert arbeitende Menschen sind glücklich, wenn eine Venentherapie sie umgehend arbeitsfähig entlässt. Auch Patienten mit Begleiterkrankungen wie Diabetes mellitus, Dermatitiden, Adipositas, Nervenleiden, Immunschwäche, orthopädischen Krankheitsbildern u.v.m. sind sehr dankbare Empfänger der modernen nichtoperativen Verfahren.

Der häufigste Anlass zu Eingriffen ist die Stammveneninsuffizienz der V. saphena magna und parva. Aus fachlicher Sicht ist hier jede Grösse (auch über 30 mm Durchmesser) und jede Ausprägung, also einschliesslich phlebitischer Areale mit Thromben, venöser Aneurysmen, Elongationen und beliebig vieler Perforans- und Seitenastdefekte endovenös bestens zu versorgen – allerdings nur in spezialisierten Zentren mit Vorhaltung der diversen Tools. Bei Mangel an entsprechender Expertise wäre hingegen die Chirurgie erste Wahl. Ein wesentlicher Qualitätsunterschied der modernen Methoden ist bereits in der Eingriffsplanung erkennbar. Hier wird oft anlog zur Stripping-OP lediglich die Stammvene mit einer Kathetertechnik versorgt, es verbleiben dabei mangels diagnostischer Differenzierung insuffiziente Crossenäste, Crossenstümpfe, Perforans- und Seitenastdefekte und somit unnötige Rezidivpotenziale. Äussere Befunde werden häufig kostenträchtigen ambulanten Zweiteingriffen unterzogen. Ein optimales Vorgehen erfasst hingegen alle relevanten Befunde einschliesslich kleiner Details und versorgt diese in Kombinationstechniken in einer einzigen Sitzung.

Die Varizen – oft nur die "Spitze des Eisbergs", aber eben das Korrelat, welches meist den Patienten zum Arzt führt – können entweder chirurgisch (Phlebektomie) oder interventionell (Schaumverödung mit mittleren Viskositäten) versorgt werden. Während herkömmliche Verödungen oft zu Verfärbungen führen, trifft das für die von uns entwickelte "Foam&Film"-Technik nicht zu. Dabei hält eine medizinische Folie die Venen in der Nachsorge blutleer, was ein Kompressionsstrumpf nicht vermag. Wir bevorzugen diese schmerzfreie Technik in aller Regel gegenüber der Phlebektomie, da keinerlei Narben und nicht die geringsten Gewebeschäden entstehen. Bei anderen Astinsuffizienzen gilt: Je tiefer sie unter dem Hautniveau liegen, desto eher sind interventionelle Techniken zu wählen, da diese ohne Gewebetraumatisierung zum Ziel führen. Ein besonderes Wort gilt den Rezidiven nach früheren chirurgischen Venenoperationen: Diese sind anatomisch stets erheblich komplexer als der normale Situs. Sie sollten heutzutage grundsätzlich nicht mehr chirurgisch angegangen werden, denn die Re-Operation ist stets noch schwieriger und komplikationsträchtiger als der Ersteingriff. Ferner ist es niemals möglich, die oft wirren und vielverwurzelten Rezidivvarizen intraoperativ vollständig zu identifizieren und ohne Kollateralschäden zu entfernen. Die beste Option ist zweifelsfrei die Schaumverödung über selektive Mikrokatheter unter sonographischer und/oder fluoroskopischer Sicht, nicht zu verwechseln mit der deutlich unzuverlässigeren "einfachen" Schaumverödung.

Isolierte Perforansdefekte sind bevorzugt für die sogenannte selektive Schaumverödung indiziert, mit der seltenen Ausnahme sehr kurzer (< 20 mm) oder sehr grosser (> 15 mm) Defekte in Verbindung zu erhaltungsfähigen Leit- und Stammvenen, dies wäre besser mittels Ligatur zu versorgen. Bei allen Versorgungsarten ist für den Erfolg und den Komfort des Patienten auch die Art der begleitenden Kompressionsbehandlung wichtig. Da interventionelle Verfahren im Gegensatz zur Chirurgie nicht mit einem relevanten Blutungsrisiko einhergehen und aufgrund ausbleibender Gewebetraumatisierung auch kein erhöhtes Thromboserisiko gegeben ist, hat die Kompression hier eine gänzlich andere Bedeutung: Sie muss vorwiegend der Unterstützung der Rückbildung stillgelegter Varizen dienen, damit diese rasch unfühlbar und unsichtbar werden, und dient darüber hinaus lediglich der Prophylaxe. Es besteht somit eine Tendenz zur Kompressionsklasse 1 anstatt 2, was die Compliance erheblich verbessert. Auch bei der Vorsorge haben sich neue Möglichkeiten eröffnet, denn die Ultraschalltechnik und assoziierte Funktionsuntersuchungen erlauben es, individuell bestimmte Muskelgruppen zu identifizieren, die durch Training die Venenfunktion verbessern helfen können. Es versteht sich von selbst, dass jeder Venenpatient eine persönliche Aktivitätsanalyse und Beratungen zur Verbesserung seiner venenspezifischen Bewegungsgewohnheiten erhalten sollte.

Wir evaluieren gegenwärtig die Sinnhaftigkeit eines jährlichen oder zweijährlichen Venenchecks, der zunächst einmal Mehrkosten verursacht, andererseits aber eine qualitative Beurteilung und ein Coaching der durchgeführten Vorsorgemassnahmen erlaubt und die pathologischen Befunde oder Rezidive erheblich vermindert. Wir denken, dass eventuelle kleine medizinisch relevante Re- oder Neubefunde mit wenigen Franken Aufwand sofort effektiv behandelt werden können (5 Minuten ultraschallgesteuerter Mikroschaum), womit wieder ein optimaler Venenstatus gesichert wäre und grosse und teurere Eingriffe entfallen. Endgültige Ergebnisse hierzu stehen noch aus, eine zu erwartende Analogie zum überzeugenden Erfolg der Prophylaxe und Jahresinspektion in der Zahnmedizin deutet sich aber jetzt schon an.

Zum Schluss möchte ich noch erwähnen, dass Phlebitiden ohne Beteiligung tiefer Beinvenen nach neuesten Erkenntnissen in der Regel nicht mehr "klassisch" zu versorgen sind (wochenlange Antikoagulation, Kompressionstherapie, schliesslich Operation). Wir plädieren für eine Methodik, die zunächst die Ursache der Phlebitis klärt (98% vorbestehende Insuffizienz) und in diesem Fall frühestmöglich die Insuffizienz endovenös saniert. Vorteile sind eine sofortige symptomatische Besserung, die zeitgleiche Behebung der Ursache (Insuffizienz), eine erheblich verkürzte Antikoagulationsdauer (wenige Tage) und wesentliche Kostenersparnis.

Wenn Sie Kollegin oder Kollege sind und konkrete Fragen haben bezüglich moderner Methoden – zum Lernen, für Problemlösungen oder in Notfällen – dann werden wir Ihnen stets gern und sofort behilflich sein.

Meine aktuellen wissenschaftlichen Arbeitsthemen finden Sie unter www.venartis.org.

 

angioclinic® Venenzentrum
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Seestrasse 455b

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